"Lesen heißt mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken. Nun ist aber dem eigenen Denken, aus welchem allemal ein zusammenhängendes Ganzes, ein, wenn auch nicht streng abgeschlossenes, System sich zu entwickeln trachtet, nichts nachtheiliger, als ein, vermöge beständigen Lesens, zu starker Zufluß fremder Gedanken; weil diese, jeder einem andern Geiste entsprossen, einem andern Systeme angehörend, eine andere Farbe tragend, nie von selbst zu einem Ganzen des Denkens, des Wissens, der Einsicht und Ueberzeugung zusammenfließen."
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, §261, 438

Lesend verliert man sich in den Welten anderer, deren Ideen man nachzuvollziehen sucht. Man wird zum Spiegel, die eigenen Gedanken treten in den Hintergrund. Schopenhauers Skepsis gegenüber dem Lesen setzt den Wert eines eigenen einheitlichen Gedankensystems voraus, dem die Disparatheit fremder Inhalte entgegensteht. Darin zeigt sich eine Anmaßung, die an Dummheit grenzt. Selbstbeschränkend ist der Anspruch, alle Gedanken aus sich selbst zu entwickeln und fremde Gedanken zu ignorieren, die das eigene System gefährden könnten. Aber weshalb soll man sich in seinem Denken vereinheitlichen anstatt sich in die Widersprüchlichkeit fremder Sichtweisen zu verstreuen?



Schopenhauer, Arthur: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Zürich: Haffmans Verlag, 1999