Was ich meine Gegenwart nenne, ist meine Haltung der unmittelbaren Zukunft gegenüber, meine bevorstehende Tätigkeit. Meine Gegenwart ist demnach wirklich sensorisch-motorisch. Von meiner Vergangenheit wird nur das zum Bilde und folglich zur Empfindung, wenigstens zu einer beginnenden, was bei dieser Tätigkeit mitarbeiten kann, sich der Haltung einfügen, mit einem Wort sich nützlich machen kann; aber sobald meine Vergangenheit Bild wird, verläßt sie den Zustand der reinen Erinnerung und schmilzt mit einem Teil meiner Gegenwart zusammen. Die zum Bilde vergegenwärtigte Erinnerung unterscheidet sich also gründlich von der reinen Erinnerung. Das Bild ist ein gegenwärtiger Zustand und kann an der Vergangenheit nur teilhaben durch die Erinnerung, aus der es hervorgegangen ist. Die Erinnerung dagegen, machtlos solange sie unnützlich bleibt, bleibt frei von jeder Vermengung mit der Empfindung, ohne Zusammenhang mit der Gegenwart und folglich unausgedehnt."
Henri Bergson, Materie und Gedächtnis; in: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, 156

Mein Leben in der Gegenwart ist geprägt von Empfindungen und orientiert an Handlungsmöglichkeiten, die sich auf die Zukunft beziehen. Gegenwart bedeutet, Sich-vorweg-sein, in Projekte involviert sein. Andererseits sind die Empfindungen gefärbt von Erinnerungsbildern, die dadurch entstehen, dass Erinnerungen von Wahrnehmungen angezogen werden, deren Energie sie aus ihrem virtuellen Zustand herausholt und aktualisiert. Wahrnehmungen bestehen also größtenteils aus Erinnerungsbildern. Das Kriterium der Aktualisierung ist ihre Nützlichkeit für zukünftige Handlungen. Ansonsten verbleiben die Erinnerungen in ihrem virtuellen Zustand – Bergson nennt sie »reine Erinnerungen« im Unterschied zu den Erinnerungsbildern; sie sind von der Gegenwart, von Empfindungen und Wahrnehmungen getrennt.



Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis und andere Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1964