"Wenn etwas zur Gewohnheit geworden ist, dann erblaßt und entschwindet es, es löst sich in deiner affektiven Beziehung auf bis zur Unsichtbarkeit, du kannst es nicht mehr wahrnehmen, und da kein Schock, keine Reibung mehr ist, kannst du es weder hassen noch lieben und auch dich selbst verlierst du in dieser grauen fädigen Fremde, die sich ausbreitet. Wenn ich von positiver Fremde spreche, dann meine ich natürlich das schöpferische Fremdstehen so wie es in der Kindheit ist, wo alles in einem prägenden Sinne auf dich einwirkt, daß du nach Wörtern suchen mußt und ganz erregt wirst vor Anteilnahme, während das Gewöhnen ein Erblinden ist und das völlige Fehlen von Anteilnahme, die Beziehungslosigkeit, Vakuum."
Paul Nizon, Die Innenseite des Mantels, 155

Die Gewohnheit schleift das kantige Empfinden für das Besondere rund, sie tötet die Wahrnehmung, weil sie den gefühlsbestimmten Bezug zum Wahrgenommenen auslöscht. Das Erlebte versinkt in der Gleichgültigkeit. Es gibt nicht mehr die Neugier und das Staunen angesichts der Fremdheit der Welt, das wir in der Kindheit besaßen und als Erwachsene verloren haben.



Nizon, Paul: Die Innenseite des Mantels. Journal. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995